Erinnerungen. Meine Großmutter. Wenn die Rede auf den 2. Weltkrieg kam, herrschte Schweigen. Ging es um den Februar 1934 – den Bürgerkrieg – reagierte sie mit Entsetzen. Ich will und kann das nicht interpretieren. Empfand sie die Erinnerung an den Februaraufstand schlimmer als jene an den 2. Weltkrieg? War in ihrem Verständnis doch der 2. Weltkrieg schlimmer? Unsagbar schlimmer? Als Jugendlicher habe ich es verabsäumt, danach zu fragen. Diese ambivalente Reaktion der Großmutter jedenfalls scheint mir der erste Grund für mein Interesse an der Zwischenkriegszeit zu sein; ein Interesse, das ursprünglich ausschließlich emotional gespeist war und erst im Laufe der Zeit mit Fakten untermauert wurde.

 

Das Ergebnis? Das Rote Wien und dessen unrühmliches Ende zählen für mich zu den faszinierendsten Epochen der Geschichte der Stadt, mit all den Widersprüchen, mit all den Errungenschaften und den Fragen, die sich auftun. Fragen, die kontrovers diskutiert werden können und müssen. Und schließlich: die verschiedensten, widersprüchlichen Interpretationsversuche durch Historiker, unabhängig davon, ob sie sich als Apologeten oder als Gegner des Roten Wien verstehen.

 

Möglicherweise liegt es an meinem Verständnis als Fremdenführers, nicht nur die angenehmen, sondern auch die dunkleren Seiten der Stadt zu thematisieren. Im Falle des Roten Wien wäre das die Überwindung einer katastrophalen Lebens-Situation um die Jahrhundertwende mit dem unrühmlichen Ende 1934.

Vielleicht sind es die Restbestände der nächtelangen Diskussionen während der Studentenzeit, als wir in regelmäßigen Abständen die Welt retteten, vielleicht mein Anspruch als Fremdenführer, die Welt doch noch ein bisserl besser zu machen, mit dem Blick auf das größere Ganze, zu verhindern, dass derartige Zustände sich wiederholen. Ziemlich ambitioniert. Zu ambitioniert? Die Hoffnung jedenfalls lebt. Und sie motiviert.

 

Steine, die sprechen?

 

Zur Eröffnung des Karl-Marx-Hofes am 12. Oktober 1930 wagte der damalige Bürgermeister der Stadt, Karl Seitz einen Blick in die Zukunft. Sinngemäß meinte er - von sprechenden Steinen redend -, dass es die Arbeiter-Burgen wären, die den Wienern die Politik der Sozialdemokratie für immer ins Gedächtnis einprägen würden. Diese Aussage war so richtig wie bedauerlich.

 

Richtig: Innerhalb von 15 Jahren wurden 64.000 Wohneinheiten für 220.000 Menschen in über 400 Gebäuden geschaffen; wer heute durch Wien spaziert, kann sich dem nicht entziehen, wer heute durch Wien spaziert, dem muss die  Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit gegenwärtig sein.

Bedauerlich ist die Reduktion auf einen Teilaspekt, das Schaffen eines verkürzenden Narratives, das außer Acht lässt, dass die Wohnungsanlagen lediglich oberflächlich sichtbares Destillat eines Politikbündels sind, in dem sich Bildungs- und Kulturpolitik, Wohlfahrts- und Gesundheitspolitik, Finanz- und Fiskalpolitik, ja selbst (eine durchaus fragwürdige) Frauenpolitik vereinen. Bedauerlich ist mithin, dass die philosophischen Ideen dahinter und die zum Teil vehement geführten innerparteilichen Auseinandersetzungen in Vergessenheit geraten sind. Ebenso wie die Tatsache, dass diese Auseinandersetzungen öffentlich ausgetragen wurden, über die Medien. Wissend, dass der Kitt – nämlich die sozialdemokratische Idee, das Leben der Arbeiter zu verbessern, nämlich die Idee, die Gesellschaft (alle Gesellschaftsschichten einbeziehend) zu modernisieren – stärker war als etwaige Zentrifugalkräfte.

 

Kurzum: die Substanz ging verloren, was bleibt sind Gebäude, deren Ästhetik - je nach Geschmack - anziehend oder abstoßend wirken mag.